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Der Aufstand der Zapatisten im Spiegel der Bewegungsforschung — Rezension

Buchrezension vom 12.04.2010
Antje Gebel

  Der Aufstand der Zapatisten im Spiegel der Bewegungsforschung16 Jahre nach dem Aufstand der EZLN in Mexiko legt Torben Ehlers eine fundierte Analyse der Geschichte dieser Bewegung von den Wurzeln bis in die Gegenwart vor. Das Anliegen des Buches geht aber weiter: Es geht nicht nur um ein tiefes Verständnis der mexikanischen Verhältnisse, sondern auch um eine Analyse der methodischen Werkzeuge der Sozialwissenschaften, mit denen ein solches Verständnis erlangt werden kann. Das Buch ist denn auch in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil widmet sich der Autor den geographischen und soziostrukturellen Besonderheiten Chiapas, jenem Bundesstaat, in dem die zapatistische Bewegung ihren Ursprung hat und der Geschichte des Widerstandes. Im zweiten Teil stellt Ehlers vier Ansätze der Bewegungsforschung vor, diskutiert ihre Vor- und Nachteile und bezieht sie schließlich auf die zapatistische Bewegung. Ein abschließendes Kapitel fasst die Ergebnisse des zweiten Teils zusammen.

Entgegen sonstiger Gepflogenheiten legt der Autor von Anfang an dar, welche Ziele seine Arbeit verfolgt und vor allem: von welchem Ausgangspunkt sie geschrieben ist. Verschweigen andere Autoren gern ihre geistige Herkunft, stellt Ehlers selbstbewusst dar: »Der Autor verhehlt nicht, dass er den marxschen Arbeitsbegriff und eine kritisch historische Vorgehensweise für unabdingbar hält, obwohl ihm die Leerstellen jener alten Theorien bewusst sind.« (S. 12) Dies ist der »feste Punkt, von dem seine Arbeit, die verschiedene Theorien miteinander vergleicht, schaut« (ebd.). Diese kritische Hinterfragung der eigenen Stellung als Autor macht das Buch sympathisch und nachvollziehbar.

In den ersten Kapiteln zeichnet der Autor die komplexe Geschichte Mexikos mit ihren Verflechtungen zur restlichen Welt nach. Das beginnt fast trivial mit Zahlen und Fakten des Wirtschaftsraumes Chiapas wie man es aus dem Geographie-Unterricht kennt: Industrie, Landwirtschaft, Bevölkerung, Analphabetenrate, Sterblichkeit, Infrastruktur. Doch schon hier werden die Besonderheiten deutlich: der Rassismus gegen die Indígenas, die Zergliederung in verschiedenste Ethnien, der Kampf um Land. Ehlers stellt die statistischen Daten von Anfang an in ihren sozialen Kontexten vor — eine ganz »klassische« historisch-materialistische Herangehensweise, die von ihrem Charme nichts eingebüßt hat.

Viele Punkte werden zunächst angerissen, so dass eher Fragen auftauchen als Antworten gegeben werden. So bei der Beurteilung der ISI, der importsubstituierten Industrialisierung der 70er Jahre: »Dies[e] führte bis in die 1970er Jahre dazu, dass sich die mexikanische Wirtschaft recht unproduktiv entwickelte. Es gab zuviel Beschäftigung und dem Arbeitsaufwand entsprechend unverhältnismäßige Preisstabilisierungen.« (S. 28) Die Gedanken schweifen an dieser Stelle zurück. Wie war das noch, Mitte der 80er? Brasilien und Mexiko, die größten Schuldner der Welt, die Politik von Weltbank und IWF... Hatten »wir« damals nicht die Industrie-Nationen angeklagt, mit ihrer profitorientierten Politik für Hunger, Armut und Tod in den bäuerlichen Gesellschaften verantwortlich zu sein? »Deutsche Waffen, deutsches Geld morden mit in aller Welt!« Da scheint Ehlers Beurteilung doch recht naiv und unfair zu sein. Doch man muss dem Buch Zeit geben, dann entfaltet der Autor die komplexe Geschichte Mexikos im Rahmen der weltweiten kapitalistischen Veränderungen. Der ISI ist ein eigenes Unterkapitel gewidmet, in dem die äußeren wie auch inneren Umstände, die zum Scheitern dieser Politik führten, sehr genau untersucht werden und die Fragen, die vorher aufgetaucht sind, Antworten finden. Die geneigte Leserin wird in diesem Teil des Buches zum selber Denken ermutigt, ihre Erinnerungen an erlebte Debatten und Kämpfe geweckt und gleichzeitig ein enormes Fundament an Informationen und Kontexten gelegt. So reißt der Autor die Grundlagen der mexikanischen Revolution von 1910-1917 an und ordnet die nachfolgende Politik in den Kontext der weltweiten Kapitalisierung mit ihren Krisen ein. Hauptaugenmerk bleibt dabei immer die Entwicklung oppositioneller Gruppen, seien es die maoistischen oder marxisitisch-leninistischen (Guerilla)-Gruppen oder auch der indigene Protest wie er sich 1974 auf dem Kongress von San Cristobál äußerte.

Eine weitere Besonderheit des Ehlerschen Stiles ist es, die völlig andere Lebenswelt der Chiapaneken zu verdeutlichen. Dies gelingt ihm unter anderem mit Zitaten von Theoretikern ebenso wie von Mitgliedern der Bewegung, die die Situation in Mexiko darstellen oder Einblicke in die Theorien und Überlegungen der EZLN-Angehörigen geben. Die Leser sind wiederum aufgefordert, mitzudenken und »zwischen den Zeilen zu lesen«. So schwingt etwa der Unterschied zu einem Land wie Deutschland mit, wenn Ehlers schreibt: »Bedroht von Viehzüchtern [...] schlossen sich viele der Kleinbauern zu unabhängigen Organisationen zusammen, um ihr Land zu verteidigen und Druck auf die Regierung auszuüben, ihnen die offiziellen Nutzungsrechte zu übertragen.« (S. 30) Die offene Gewalt, teils vom Staat zugelassen, teils gar bewusst gefördert und die Angst, in der die Bevölkerung lebt, tritt hier in einem Rechtbewusstsein zutage, das in Deutschland so nicht vorhanden ist. Hier muss niemand Angst haben, erschossen, vertrieben und vergewaltigt zu werden, nur weil ein Konzern sein Haus oder seine Wohnung haben möchte. Auch ein typisches Vorurteil gegenüber der indigenen »Mentalität« räumt Ehlers aus der Welt: Ihre Lethargie dient als Überlebensstrategie gegenüber eben dieser offenen Gewalt von Seiten der Großgrundbesitzer.

Allein der erste Teil der Arbeit ist schon lohnenswert. Die Verknüpfung aber mit neueren Ansätzen der Bewegungsforschung machen das Buch äußerst reizvoll. Ehlers legt die Hintergründe sozialwissenschaftlicher Denker offen. Der Ansatz des Paradigmas der neuen sozialen Bewegungen (NSB) und der Ressourcen-Mobilisierung-Ansatz (RSM) werden in ihre postmodernen und wirtschaftswissenschaftlichen Schranken verwiesen. Erstaunlicherweise kann Ehlers selbst diesen insbesondere für die mexikanischen Verhältnisse unpassenden Ansätzen etwas abgewinnen. Interessanter erscheinen das Framing-Konzept und insbesondere die Cultural Studies, die gezielt Lücken der marxschen Theorie zu füllen suchen, etwa bei der Untersuchung politischer Kultur, Identifikation und Ideologie oder bei Sprache und Symbolen von Bewegungen.

Diese Kapitel sind nicht immer leicht nachzuvollziehen. Sozialwissenschaftliche Sprache und — insbesondere im Framing-Kapitel — häufige englische Zitate und der Wechsel von Englisch und Deutsch in einem Satz zeigen die wissenschaftliche Ausrichtung des Buches. Eine Auseinandersetzung mit den Leerstellen der marxschen Klassenanalyse in Bezug auf die neuen Ansätze wäre sicher nicht verkehrt gewesen, vielleicht wäre dann die Auseinandersetzung mit NSB und RSM weniger akademisch geblieben. Das Schlusskapitel macht aber einige Schwachstellen wieder wett. In komprimierter Form werden die Ergebnisse der Untersuchung aus dem zweiten Teil dargestellt und man wünscht sich, dass der Autor die angerissenen Fragestellungen in eben jener Form weiterführt und vertieft. Der Autor gibt auf jeden Fall Werkzeuge in die Hand, die eigenen politische Praxis zu reflektieren.

Durch die Anordnung der Unterkapitel in die Grundzüge der jeweiligen Theorie, ihre Vor- und Nachteile und ihre Anwendung auf die EZLN kommt es zu Wiederholungen, die nicht nötig gewesen wären. Der Nicht-Fachfrau werden manche Gedanken einer Theorie erst in der Anwendung auf die zapatistische Bewegung deutlich. Eine andere Reihenfolge wäre prägnanter und übersichtlicher gewesen. Ein gutes Buch lässt sich aber auch zweimal lesen.

Torben Ehlers
Der Aufstand der Zapatisten.
Die Widerspenstige Schnecke im Spiegel der Bewegungsforschung.

Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag; Reihe: Sozialwissenschaften, Bd. 24; Tectum Verlag Marburg, 2009



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